Stellungnahme des Expert*innen-Netzwerks zum Umgang mit menschlichen Überresten zur Etablierung eines Fonds zur Rückführung menschlicher Überreste

Der Raub menschlicher Überreste in der Kolonialzeit hat bis heute enorme Auswirkungen auf Nachfahr*innen, die betroffenen Communities und ihre Herkunftsländer. Seit vielen Jahren haben Nachfahr*innen von Personen, deren sterbliche Überreste während der Kolonialzeit nach Deutschland verbracht wurden, zivilgesellschaftliche Initiativen wie auch Provenienzforscher*innen und Kurator*innen von Museen und Sammlungen dargelegt, dass Rückführungen menschlicher Überreste finanzielle Unterstützung benötigen. Die im Netzwerk versammelten Kolleg*innen begrüßen daher ausdrücklich, dass 2023 die politische Entscheidung fiel, hierfür notwendige Gelder zukünftig bereitzustellen. Für die Umsetzung schlagen wir daher einige allgemeine Prinzipien und spezifische Maßnahmen vor, die der Fond abdecken soll.

Allgemeine Prinzipien:

1. Anerkennung der Verantwortung in Vergangenheit und Gegenwart

      • Wir sehen von deutscher Seite die Notwendigkeit, Verantwortung in Bezug auf historisches Unrecht mit der finanziellen und logistischen Ermöglichung von Rückführungen menschlicher Überreste in der Gegenwart zu übernehmen.
      • Unsere Erfahrungen zeigen, dass Prozesse vor allem dann erfolgreich sind, wenn die Rückgaben direkt an die Communities erfolgen und deren Vertreter*innen ihre Vorfahren in den Museen selbst abholen. Essenziell dabei ist, dass kulturelle Protokolle befolgt und erforderliche rituelle Handlungen vor Ort durchgeführt werden können.
      • Beim Empfang von Delegationsreisen ist Gastfreundschaft ein wichtiger Wert, insbesondere da diese in vielen Herkunftsländern einen hohen Stellenwert besitzt und die Nichtbeachtung zu Irritationen führt. Die finanzielle Unterstützung ist dabei essenziell.

      2. Bedarfsorientierte Förderung

      • Nötig sind flexible Fördermöglichkeiten, die sich an den Bedarfen der Herkunftsländer und Nachfahr*innen orientiert.
      • Die Mittel sollen zuallererst und größtenteils den Nachfahr*innen und Communities aus den Herkunftsgesellschaften zugutekommen, die schwer anderweitig staatliche Fördergelder beantragen können.
      • Eine ausreichende Mittelbereitstellung ist notwendig, um Konkurrenzsituationen zwischen mehreren Rückgabeprozessen zu vermeiden.

      3. Integrierter Ansatz zur Finanzierung von Rückgaben

      • Die Trennung zwischen menschlichen Überresten und Objekten lässt sich in der Praxis nicht halten. Besonders deutlich wird dies bei Grabbeigaben bzw. persönlichen Gegenständen der Verstorbenen, die in der Regel zusammen mit den sterblichen Überresten zurückgefordert werden, sowie bei bestimmten Objektgruppen, die als beseelt verstanden und daher als Subjekte angesprochen werden. Gemeinsame Rückgaben von menschlichen Überresten und Objekten müssen ermöglicht werden.

      Spezifische Maßnahmen:

      1. Übersetzung und Vermittlung von Informationen

      • Informationen und Forschungsergebnisse müssen in leicht verständlicher und sensibler Sprache aufbereitet und übersetzt werden.
      • Eine persönliche Kontaktaufnahme, proaktive Informationsübermittlung und Erläuterung und Abstimmung aller notwendigen Schritte sind unerlässlich.
      • Erfolgreiche Kommunikation erfordert u.U. auch technische oder finanzielle Unterstützung in den Herkunftsländern.

      2. Konsultationen in den Herkunftsländern

      • Ausführliche Konsultationen mit Nachfahr*innen und Vertreter*innen der Communities, die alle relevanten Akteur*innen miteinbeziehen, müssen ermöglicht werden.
      • Konsultationen umfassen in diesem Fall alle Prozesse und Gespräche, die für die Autorisierung und Ermittlung von Verantwortlichkeiten und einen bestmöglichen Konsens des Umgangs mit den Verstorbenen in den Herkunftsländern selbst nötig sind.
      • Alle notwendigen Reisekosten wie auch Tagegelder und Honorare für die aufgebrachte Zeit und Expertise müssen eingeplant werden.

      3. Organisation und Begleitung von Delegationsreisen nach Deutschland

      • Delegationsreisen müssen alle relevanten Personen umfassen, die zur Erfüllung kultureller und ritueller Handlungen erforderlich sind.
      • Die Organisation beinhaltet die Begleitung der Delegationen, persönliche Fürsorge,
        kollegiale Unterstützung und ausreichend Freizeit zur Erholung.
      • Alle notwendigen Reisekosten wie auch Tagegelder und Honorare für die aufgebrachte Zeit und Expertise müssen eingeplant werden.
      • Finanzielle und organisatorische Unterstützung ist bereits für die verschiedenen Aspekte der Reisevorbereitung (Visa, Reisebuchung, Beratung) essenziell.

      4. Rückführungen

      • Finanzielle Unterstützung der logistischen Transport- und Ausfuhrprozesse (Zoll, Genehmigungen, angemessene Verpackung) sind zu berücksichtigen.
      • Würdevolle Bestattungen und Zeremonien in den Herkunftsländern müssen ausreichend finanziell unterstützt werden.
      • Neben der Bestattung selbst, kann dies auch die weitere Ausstattung wie
        Gedenksteine, Blumen, Verpflegung und angemessenes Rahmenprogramm sowie die Anreise relevanter Personen aus anderen Regionen beinhalten.
      • Die langfristige Pflege von Grabstätten und Gedenkorten soll gesichert sein.

      Schlussbemerkungen:

      Die Etablierung eines Fonds zur Restitution menschlicher Überreste ist ein klares Zeichen der Verantwortung und des Respekts gegenüber den betroffenen Communities und erkennt die Würde des Menschen auch über dessen Tod hinaus an.

      Wir stehen für weitere Fragen und zur Unterstützung der Konzeptentwicklung zur Verfügung und hoffen auf Ihre Unterstützung, diese wichtigen Prozesse zu ermöglichen.

      Das Netzwerk ist ein interdisziplinärer Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen, die sich in ihrer praktischen oder theoretischen Arbeit mit menschlichen Überresten beschäftigen. Unser Ziel ist ein angemessener Umgang mit den sterblichen Überresten von Menschen in Museen und wissenschaftlichen Einrichtungen. Das Netzwerk existiert seit 2021 und ist ein assoziierter Teil der AG Koloniale Provenienzen des Arbeitskreises Provenienzforschung e.V.

      Unterzeichnende im Einzelnen (in alphabetischer Reihenfolge):

      • Anna-Maria Brandstetter, Institut für Ethnologie und Afrikastudien, Joh. Gutenberg- Universität Mainz
      • Bettina von Briskorn
      • Jamie Dau, Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim
      • Igor Eberhard, Ethnographische Sammlung, Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien
      • Sarah Fründt, Deutsches Zentrum Kulturgutverluste
      • Martin Gericke, Institut für Anatomie, Universität Leipzig
      • Birgit Großkopf, Sammlung Historische Anthropologie der Universität Göttingen
      • Jasmin Günther, Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt (MARKK)
      • Miriam Hamburger
      • Juliane Heinze, GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Staatliche Ethnographische Sammlungen Sachsen
      • Simon Hirzel, BASA-Museum (Bonner Amerikas-Sammlung), Universität Bonn
      • Mário Jorge Alves, Oberhessisches Museum Gießen
      • Ivonne Kaiser, Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg
      • Jeanette Kokott, Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt (MARKK)
      • Marius Kowalak, Staatliche Museen zu Berlin
      • Ilja Labischinski, Staatliche Museen zu Berlin
      • Hansjörg Pötzsch, 3Landesmuseen Braunschweig
      • Isabelle Reimann
      • Thomas Ruhland
      • Kristina Scheelen-Nováček, Landesarchäologie Bremen
      • Stefanie Schien
      • Holger Stoecker, Universität Göttingen
      • Katharina Stötzel, Blumenbachsche Schädelsammlung der Universitätsmedizin Göttingen
      • Anna Szöke, Ethnologisches Museum, Museum für Asiatische Kunst, Stiftung Preußischer Kulturbesitz
      • Annika Vosseler, Museum der Universität Tübingen MUT
      • Stephanie Zesch

      Stand: 01.07.2024